„Happy Birthday to you“ – ein mehrdeutiger Gesang am 31.10. und die Tage drumherum

Am Montag bin ich wie schon so oft am Nachmittag bei Samuel gewesen. Eine seiner „Hauptbeschäftigungen“ seitdem er etwas wacher geworden ist, ist das ständige „Rumzuppeln“ an der Magensonde: so ein Schlauch in der Nase ist nervig, gehört da nicht hin und Samuel weiß genau, wie er ziehen muss, damit er das Ding los wird. Das passiert dann schon so 2-3x täglich.  Leider! Denn das „Wieder-Einführen“ einer neuen Sonde ist für ihn auch sehr unangenehm. Aber nun gut. Ich komme Montag hin, gerade in dem Moment, wo Samuel sich mal wieder davon befreit hat. In diesem Moment kommt auch die Logopädin, die versucht, mit ihm ein wenig das Essen zu üben. Die Pflegekräfte vereinbaren, nach dem Logopädie-Einsatz die Sonde zu legen. Nach dem Logopädie-Einsatz will Papa aber mit seinem Sohn „on tour“: einmal im Rolli, dick eingemummelt in einer neuen BVB-Jacke, dazu noch mit BVB-Mütze, wollen wir endlich mal vor die Tür (ich erwähne jetzt nicht, dass ich unter normalen Umständen keinen Handschlag getan hätte, um meinen Sohn in BVB-Klamotten zu stecken. Als Vollblut-HSVer… aber neee, ich wollte ja kein Wort darüber verlieren…).  Und ich vereinbare mit den Pflegern, dass es ja nicht nötig ist, die Sonde vor dem Ausflug zu legen. So hat Samuel insgesamt einfach mal 1,5Stunden „Sondenfrei“, das ist wirklich auch ein Gewinn für ihn!
Nach so langer Zeit endlich mal wieder raus, bewusst atmen, bewusst sehen, bewusst riechen… Das letzte Mal, als Samuel draußen war, war bei der Verlegung vom UKE nach Geesthacht – und da hatte er einfach nicht besonders viel mitbekommen.
Auch, wenn dieser Ausflug nicht „garniert war“ mit Kommunikation: ich konnte doch spüren, dass ihm diese Zeit draußen gut getan hat. Es war auch anstrengend, natürlich… denn wer so lange liegt (fast 5 Wochen!), für den ist das aufrechte Sitzen, das „Kopf gerade halten“ schon Schwerstarbeit.
Nachdem wir wieder drin sind und ich ihm ins Bett geholfen habe, war auch schon das Kräftereservoir erschöpft. Ich merke das daran, dass er sich dann zur Seite dreht und auf nichts mehr wirklich reagiert.
Na gut, ein bisschen Pause, dann gibt es noch ein kleines Hörspiel… die Zeit vergeht, die Kräfte und die Aufmerksamkeit kommen wieder. Dann machen wir eine kleine Sprach/Ton-Übung, weil ich von Yvonne schon gehört habe, dass er zu erkennen gibt, dass Sprache und Töne in ihm schlummern. Und tatsächlich: er sagt PAPA! Laut und deutlich. Zwar noch mit zittriger Stimme, noch gedämpft. Aber für diesen Moment ist es das schönste PAPA, das ich jemals aus seinem Mund gehört habe. So ähnlich vielleicht wie das allererste „PAPA“, das erklang, als unsere Kinder damals anfingen zu sprechen (bzw. wie es sein wird, wenn unsere Kleinste mit ihren jetzt 7 Monaten mal „PAPA“ wird sagen können). Ich bin so beseelt von diesem Moment und glaube ganz fest, dass noch sehr viele solcher beglückender Momente folgen werden. Er geht seinen Weg ZURÜCK! Es ist so schön, darin immer wieder vergewissert zu werden!
Zum Abschied gibt es noch „Der Mond ist aufgegangen“, wie so oft singe ich das mit Gitarre an seinem Bett. Samuel kennt es von Klein auf. Und: ich darf beobachten, wie er „mitsingt“. Noch ohne Ton, aber er bewegt seine Lippen so, dass ich den Text bei ihm „ablesen“ kann. Whow! Wieder ein Fortschritt. Das ist so klasse – ich freu mich so.
Gar nicht fröhlich ist an diesem Tag zumindest in einem ganz bestimmten Moment unsere dreijährige Charlotte (die inzwischen ihre Hand-Fuß-Mund-Erkrankung überwunden hat). Sie kommt mit ihrer Mama ins Gespräch über Samuel und macht deutlich, dass sie „ihren Samuel wieder haben möchte“. Sehr häufig vergisst sie das im Alltag oder wir können manchmal auch ganz unbefangen und locker darüber sprechen, dass er ja bestimmt bald wieder kommt. Aber manchmal kommt diese Traurigkeit und dieses Unverständnis halt doch durch.
Dennoch: wenn wir erleben dürfen, dass Samuel anfängt zu sprechen und somit auch kommunikativer wird, ist der Tag, wo Charlotte „ihren Samuel“ zumindest wiedersehen darf, nicht mehr weit.  Möglicherweise wird es sie etwas verstören, dass er noch so „anders spricht“, dass er verlangsamt reagiert, dass er nicht so wach guckt wie sie das von ihm kennt. Aber ein Wiedersehen wird zuerst einmal pure Freude für beide.
Und noch ein trauriger Moment am Ende des Tages: kurz bevor ich gehen will, kullern bei Samuel die Tränen, als er verzweifelt versucht, etwas zu sagen, aber merkt, dass die Worte seinen Mund nicht so verlassen, wie er das gewohnt ist bzw. so, dass ich ihn verstehe. Ein Moment der Verzweiflung über seine Situation… so etwas auszuhalten und auch fröhlich optimistisch dagegen zu halten, ist hart – ist aber das einzige, was geht und was „geboten ist“. Solche Momente wird es noch häufiger geben, da bin ich mir sicher. Es zerreißt mein Herz, einerseits! Und andererseits bin ich mir eben auch sicher, dass es noch wahnsinnig viele Erfolgsmomente für ihn geben wird, so dass sich ein „optimistischer Ausblick“ auch rechtfertigen lässt. Ich habe Samuel einfach ganz fest in den Arm genommen, ihm kurz erzählt, dass er einen schlimmen Unfall hatte und dass nun sein Kopf vieles wieder neu lernen muss. Aber dass er eben auch schon so viel geschafft hat in den bisherigen Wochen und dass er mit eigenem Willen und der Hilfe vieler Menschen – und letztlich auch der Hilfe Gottes noch ganz viel schaffen wird.
Wir beten noch gemeinsam und dann verabschiede ich mich. Alles ist gut – in diesem Moment!
Am nächsten Tag ist FEIERTAG. Reformationstag! Whow! 500 Jahre Reformation. Ich bin mir sicher, dass ich unter normalen Umständen diesen Tag bewusst auch in seiner Bedeutung nicht nur erlebt, sondern auch mitgestaltet hätte. So ist es nur eine Randerscheinung… Oder doch nicht? „Sola gratia, sola fide, solus christus, sola scriptura. Soli deo gloria“ Wenn auch irgendwie anders, so erlebe ich in den letzten Wochen doch genau das: welcher Halt mir die Worte der Bibel sind. Wie ich auf Christus alleine hoffe in dieser Situation. Wie ich merke – auch wenn (hoffentlich nur vorübergehend…) bei Samuel viele Dinge nicht da sind, die ihn im gesunden Zustand ausmachen… – dass daran nicht sein WERT hängt. Es hängt nicht an dem, was er leistet. Gottes Liebe, die er in der Taufe zugesprochen bekommen hat, gilt unverbrüchlich, ganz egal, wie zerbrüchlich oder zerbrochen Samuels Zustand ist. Und auch dies:  allein der Glaube, allein das Vertrauen – darauf kommt es an. Wir können ja doch nichts wirklich „machen“, außer GOTT zu vertrauen. Und das ist schon sehr viel!
Ansonsten ist dieser Tag als FEIERTAG im Rahmen einer Reha immer irgendwie doof, weil an solchen Tagen keine Förderungen/Therapien stattfinden. Und gerade wo die Sache mit der Magensonde so nervt, hatten wir gehofft, hier große Schritte gehen zu können, dass er das Ding endlich los wird. Aber nun heißt es weiter warten…
Ein Tag, wo nix passiert? KEINESFALLS! Für Entwicklungsschritte sorgt Samuel selbst! Ich bin an diesem Vormittag zusammen mit Charlotte bei dem Geburtstag meines jüngsten Patenkindes in Hamburg (sie wird auch 3 Jahre alt). Beim Ankommen „erwischt“ mich eine Sprachnachricht meiner Frau – nein: meines Sohnes! Zunächst ein deutliches „GUTEN MORGEN PAPA“ und dann später „im Duett“ mit seiner Mama ein gesungenes (!) „Happy Birthday to you“ für die 3 jährige Hanna. Ich bin so gerührt, könnte die ganze Welt umarmen. Mein musikalischer Sohn entdeckt den Gesang wieder, die Töne, die Melodien. Wie wunderbar, wie zauberhaft! Und so singt er „Happy Birthday“ to you irgendwie nicht nur für Hanna, sondern auch für sich selbst, seine Stimme, seine Töne!
Am Nachmittag kommt Katharina aus Hanstedt zurück. Die „Abenteuerfreizeit 74“ ist zu Ende. 74 – da in der Bibel 74x steht „fürchtet euch nicht“. Das als Grundlage der Freizeit – natürlich wohl auf dem Hintergrund, dass wir uns nicht an Halloween halten wollen (am 31.10. DAS FEST des Fürchtens), sondern in diesem Jahr besonders den Focus auf den Reformationstag legen und auf die Entdeckung Martin Luthers, dass wir uns vor Gott nicht fürchten müssen, sondern dass ER uns gerecht macht und gerecht spricht. Aber ich denke mir: wie gut, dass Katharina in ihrer persönlichen Situation (Angst um ihren Bruder, Angst um die Zukunft der Familie) diese Grundlage erneuert bekommt: fürchtet euch nicht!
Es waren sehr gute Tage in Hanstedt!
Am Mittwoch bin ich zu meinem Arzt gefahren, um mich nun noch für eine weitere, für die sechste Woche, krank schreiben zu lassen. Danach muss es wieder los gehen mit einem Arbeitsalltag, mit einem Alltag zwischen Fuhlsbüttel, Geesthacht und Winsen. Ich hab auch schon einen Plan erstellt, wie das alles gehen könnte und mache mir viele Gedanken.
Als ich mit Yvonne zusammen sitze, merke ich jedoch, dass das alles so nicht passt. Sie wäre schwer überfordert mit dem Gefühl, dass ich in Hamburg, „weit weg von allem“ bin und sie sich zwischen Geesthacht und Winsen zerreißen muss…
Es wäre besser, für die Zeit, in der Samuel noch so „hilfsbedürftig“ ist wie im Moment, eine Lösung zu finden, dass ich noch nicht wieder arbeiten muss. Wenn er erstmal wieder alleine laufen, alleine zur Toilette kann, alleine essen und sich sprachlich so mitteilen, dass die Pflegekräfte verstehen, was er möchte, dann ist es wohl auch möglich, ihn mal für eine Weile ohne elterliche Betreuung zu lassen, also auch „Pufferzeiten“ z.B. in der Mittagspause zu haben, in der dann keiner von uns da ist… Wir hoffen und sind aufgrund seiner Entwicklung zuversichtlich, dass dies in den nächsten 3 Wochen so weit sein könnte…Wir überlegen  also, wie eine solche Lösung aussehen kann – und ich werde am morgigen Donnerstag mal ein Gespräch mit dem Sozialdienst an der Reha-Klinik haben, möglicherweise blicken die weiter…
Yvonne hätte an diesem Tag einen Zahnarzt-Termin gehabt, den sie aber gestrichen hat, weil sonst niemand bei Samuel wäre… Eins von vielen kleinen Beispielen, das deutlich macht, dass trotz vieler hilfsbereiter Menschen um uns herum (und wieder mal DANKE, DANKE, DANKE dafür!) etliches eben doch bei uns bleiben muss, so dass wir eben doch stärker gefordert sind als ein Arbeitsalltag es momentan erlauben würde… So viel Koordination. Wer fährt wann wohin, ist wann für welches Kind da?…
Für Samuel gibt es an diesem Tag zwei schöne „Mitbringsel“. Eine Handtrommel, an der er schon kräftig übt – sogar das Trommeln mit den einzelnen Fingern klappt schon – und einen SCHOKOPUDDING, den er zum Abendbrot komplett verschlingt. Als Nachspeise natürlich, vorher gab es einen ganzen Teller voll mit Reis, Geflügelfleisch und Gemüse – noch in pürierter Form. Er hat also richtig „reingehauen“ – so macht man das, wenn man wieder zu Kräften kommen will.
Sehr gut, Samuel! Ich liebe dich, mein Sohn!

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