An diesem Sonntag ist in der Fuhlsbüttler Gemeinde, in der ich „normalerweise als Diakon wirble“, der alljährliche Basar – ein „riesen Pohei“, auf das schon wochenlang vorher in der Gemeinde alles andere ausgerichtet wird… Aber in diesem Jahr bin ich dann mal nicht dabei. Fühlt sich ein bisschen merkwürdig an – aber so ist es. Dieses Jahr werden die Prioritäten eindeutig anders gesetzt!
So bin ich mal wieder in Pattensen im Gottesdienst, diesmal mitgestaltet von der Organisation „open doors“, die sich um verfolgte Christen in der ganzen Welt kümmert. Auch ein sehr wichtiges Thema, unter dem biblischen Leitwort: „wenn ein Glied (des Körpers) leidet, leiden alle anderen mit. Kirche als „ein Leib“, als Einheit. Auch das kann ich wieder gut auf unsere momentane Situation beziehen: wir leiden – und bekommen mit, wie andere mit-leiden, mitgehen, mitbeten, mithelfen. So oft schon habe ich das gesagt, aber es gibt eigentlich keinen Tag, wo mir das nicht dankbar bewusst wird.
Während ich in Pattensen bin, bekommt Samuel schon Besuch. Heute von meinen Eltern, die auch schon länger nicht bei ihm waren und Bauklötze staunen können über die Fortschritte, die er seitdem gemacht hat. Die beiden fahren vorher in Winsen rum und gabeln Katharina und Charlotte auf, so dass es heute zum erneuten Wiedersehen kommt, was allen gut tut!
Als ich nachmittags bei Samuel bin, bekomme ich noch den Hinweis von meiner Frau: nutzt mal noch die Trockenheit und das schöne Wetter und kommt ein bisschen raus. Das machen wir: Jacke & Mütze an, Rolli fertig, los! Und dann denke ich mir… warum eigentlich immer nur Rolli fahren? Und wir schieben zum Auto. Ich frag Samuel: hast Du Lust, mal im Auto zu sitzen? Er grinst und sagt JA! Also Rolli in den Kofferraum, Samuel auf die Beifahrerseite gehievt und ne kleine Runde gedreht. Natürlich auch Radio Hamburg angemacht. Das alles freut ihn sichtlich. Endlich mal wieder mehr sehen. Nach nur 10min. im Auto steigen wir aber schon wieder aus. Keine Reizüberflutung!
Danach ist er auch relativ platt, möchte gerne ins Bett zurück.
Insgesamt merke ich, wie mich heute seine noch etwas „ungeordnete Art“ wieder etwas verunsichert… Er spricht häufig von sich selbst in der 3. Person, plappert Papagei-artig alles nach, anstatt zu antworten oder selbst was zu sagen, oder er gibt unpassende Antworten, oder es wird „irgendwas zusammenhangloses“ erzählt.
Ja, ich weiß, man spricht jetzt vom „Durchgangssyndrom“ und ja ich weiß, das dauert seine Zeit und ja ich weiß, es ist in der Regel reversibel. Aber wer sagt mir, dass diese Regel auch bei ihm gilt? Immer wieder hatte ich diese Momente in letzter Zeit, dass ich dachte: was ist, wenn er bei dem stehen bleibt, wie es jetzt gerade ist? ängstlich Gott vertrauen.. ein Widerspruch? Aber genau das ist die (schwere) Übung, in die ich immer wieder geschickt werde… Ein großes Ziel und eine große Hoffnung vor Augen (er wird wieder gesund, ein „fröhliches Schulkind“) und dennoch von Tag zu Tag schauen, dennoch nur an jedem Tag sehen, was gerade geht oder eben noch nicht geht. Das ist hart…
Und ich muss es aushalten, dass manche Tage ohne „happy end“, ohne befriedigende Antwort zu Ende gehen… Der heutige Tag geht sogar noch mit einem Schrecken zu Ende: Zuhause sind alle ganz aufgelöst, weil vom Plastik-Babylöffel, mit dem Elisabeth ihren Abendbrei bekommt, die Spitze fehlt… Abgekaut? Runtergeschluckt? Wohlmöglich mit scharfen Kanten? Au wei… innere Verletzungen? Der nächste „Sorgenfilm“ läuft innerlich ab… Aber bei allem Hin- und Her und aller Unsicherheit entscheiden wir uns, abzuwarten und sie zu beobachten. Um es vorweg zu nehmen… die Nacht war okay und das Baby ist nach wie vor wohlauf. Irgendwann war dann aber tatsächlich das Stück Löffel in der Windel… Tssss…
Am Montag ist Samuel sehr beweglich und unruhig, will immer einfach los. Man beschließt, für ihn eine andere Art der „Fixierung“ bzw. Gurt im Rolli zu haben, eine, die eben auch den Brustbereich „festhält“. Nicht besonders schön, aber da Samuel gerade dabei ist, seinen „Rolli-Führerschein“ selbstständig zu erneuern (er kurvt filigran um kleine Ecken herum, weiß genau, welches Rad er wohin drehen muss, um in bestimmte Richtungen zu kommen…), kann es auch schon mal sein, dass er sich im Rolli aus dem Zimmer bewegt – und wenn er dann nicht vernünftig „angeschnallt“ ist, kippt er evtl. beim Versuch, aufzustehn, aus dem fahrbaren Untersatz. Auch nicht schön…
Bei einem gezielten Ausflug mit dem Rolli schauen wir uns die „Station A“ an, das ist die normale Kinderstation, auf die Samuel ab dem 20.11. verlegt wird. Dort gibt es dann auch „Rooming in“, also Einzelzimmer mit „Elternteil-Bei-Bett“. Und ein Spielzimmer. Hach… wenn wir erst mal da sind… dann wird er hoffentlich schon einen ganz neuen Level an Beweglichkeit erhalten haben. Wir freuen uns darauf.
Bezogen auf meine Ängste von gestern ist Samuel heute schon „ganz anders drauf“: Er suchte das Gespräch mit seinem Bettnachbarn, stellte Fragen, scherzte und macht einfach weiter irre viele Fortschritte, auch im kognitiven Bereich. So dass uns der Mund offen stehen bleibt. Ich stehe im Badezimmer, sehe, wie er sein BVB-Kissen durch die Luft wirft und im Zimmer fliegen lässt, so dass es weit weg von ihm landet. Ich sage: „Kann man machen“. Er antwortet laut: „Muss man aber nicht“ – und lacht sich schlapp. Einfach schön 🙂
Die Logopädin meinte heute, Samuel würde sie an einen Jungen erinnern, der vor ca. einem Jahr da war: 12 Jahre alt, auch mit einem schweren Schädel-Hirn-Trauma. Nach 4 Wochen auf der IMC (die Station, auf der Samuel auch gerade ist) war er noch für ein paar Wochen auf einer normalen Station und ging dann gesund nach Hause. Sie meinte, es würde sie mittlerweile nicht mehr wundern, wenn Samuel eine ähnliche Entwicklung macht. 😊 Doch, ich muss sagen: WUNDERN im Sinne von WUNDERBAR FINDEN, im Sinne von nicht wirklich damit rechnen, es nicht wirklich erwarten… würde ich das immer noch. Es wäre natürlich zu schön!
Abends sind wir noch im Speisesaal – er hat Lust auf Nudelpfanne mit Geflügelfleisch. Das wird dann mit ein bisschen Milch versehen und püriert und: OOOOHHH das schmeckt. Nen riesen Teller hat er davon verputzt. Super! Ganz anders als Zuhause 😉
Dann werden wir dort „abgefangen“ von der Logopädin, die uns gesucht hat, weil sie für Samuel einen neuen Rolli gefunden haben; einen, der die obigen „Gurt-Ideen“ beinhaltet. Damit muss er dann auch erstmal neu fahren üben, aber das ist ein Projekt für morgen. Heute geht’s noch ans Zähneputzen (im Rolli, vorm Waschbecken) incl. Mund spülen (ohne runter zu schlucken! Macht Samuel prima!), Schlafanzug an, Lied, Gebet – und gute Nacht!
Am Dienstag fahre ich vormittags hin. Mir wird auf der Fahrt bewusst, dass es jetzt auf den Tag genau schon 6 Wochen sind, seitdem uns der Unfall aus allem heraus gerissen hat. Aber in den 6 Wochen ist so viel Gutes passiert, dass ich mir sage: wenn die Prognose lautet „mit 6 Monaten Reha müssen Sie rechnen“, dann haben wir incl. der Zeit auf der Intensivstation mit etwa 30 Wochen zu rechnen, haben jetzt also 1/5 geschafft. Eine harte Zeit, in der aber unterm Strich das Positive überwog. Und dann schaffen wir die restlichen 80% der Zeit auch noch…!!!
Die Schulter (Schlüsselbeinbruch links) wurde heute morgen getapet (d?), das ist nach so vielen Wochen Unbeweglichkeit durch den Stützverband wieder ein Stück mehr Mobilität, die Samuel gut tut. Das Bein (Fraktur Unterschenkel links) ist ab jetzt auch fast immer ohne Schiene. Am Donnerstag ist Kontroll-Röntgen, wir hoffen, dass alles gut verheilt ist, so dass dann auch die Belastung der linken Seite Stück für Stück erfolgt und er das Laufen wieder wirklich üben darf. Er würde jetzt schon, wenn man ihn ließe…
Die Logopädie gibt die „Vollkost“ frei, d.h. ab jetzt muss nix mehr püriert werden. Wieder ein Stück weiter – auch hier: die Normalität kehrt zurück, wie schön! 🙂
Interessant ist, dass er immer mal wieder Momente hat, wo er „irgendwie“ versucht einzuordnen, was mit ihm los ist. Heute gab es eine Szene, in der er mit Janno, seinem Bettnachbarn Ball hin- und herwerfen gespielt hat. Dabei hat Janno ihn wohl am Kopf getroffen, worüber Samuel sich danach furchtbar bei mir beschwert hat: Janno habe ihn so am Kopf getroffen, dass das richtig weh tat – und er fasst sich dabei an seine Narben auf der Stirn. Also immer mal Momente, in denen das „AUA am/im Kopf“ bewusst wird und versucht wird, einzuordnen.
Ungeachtet dieser „Ballwurf-Erfahrung“ gibt es noch ein schönes Zitat für mich mit auf dem Weg. Heute vom Oberarzt, der mir im Rahmen eines „small talks auf dem Flur“ sagt: „Herr Heins, ich glaube, Samuel geht gesund nach Hause!“ – und strahlt dabei.
Ach wie cool ist das! Da kann ich auch seine immer noch vorhandene „Kopf-Unsortiertheit“ wieder besser nehmen.
An diesem Tag haben wir einen „Garten-Engel“, der bei uns Buschwerk beseitigt und einen Putz-Engel, der bei uns saugt und wischt. Diese Kleinigkeiten sind so viel wert – und im normalen Alltag ja auch schnell selbst gemacht. Aber momentan… wir sind einfach immer wieder dankbar über all diese Helfer und Hilfen. Ich kann gar nicht alle und alles hier immer erwähnen, deshalb gibt es nur manchmal exemplarische Beispiele. Aber es sind so viele und es tut so gut und gibt die Kraft, die wir in diesem Marathon (Vergleich: von 42,195km haben wir möglicherweise gerade mal 8,5km geschafft und fühlen uns jetzt oft schon ausgepumpt) wirklich immer wieder brauchen. Danke! 🙂
Nachmittags erreicht uns noch eine Mail von Samuels Klassenlehrern. In der kommenden Woche werde ich mal wieder in Samuels Klasse gehen und von seiner aktuellen Entwicklung berichten – um dann auch hinterher mal mit den Lehrern über den „Weg zurück“ zu sprechen. Abends wird dann noch ein Elternabend sein, wo es schwerpunktmäßig auch um die Klassenfahrt Ende April gehen wird. Noch vor ein paar Wochen hätte ich nicht zu träumen gewagt, dass diese Klassenfahrt für Samuel je relevant sein könnte. Aber mittlerweile.. denke ich, wir sollten an diesem Elternabend teilnehmen!
Apropos Elternabend: an diesem Dienstag bin ich das erste Mal seit sechs Wochen wieder in der Kirchengemeinde in Fuhlsbüttel, da dort ein Elternabend für Konfi-Eltern stattfindet. Mir bedeuten diese Elternabende immer viel und es gibt auch viele aus der Elternschaft, die unsere Situation „mit auf ihr Herz genommen haben“. Von daher war es mir wichtig, hinzufahren. Und: es hat sich gelohnt. Es war gut – und solche kleinen Termine wird es in den nächsten 3 Wochen immer mal geben, sofern sie familiär passen. Das hilft mir, wieder langsam reinzukommen und eben auch mal was anderes zu denken und zu sehen. Und das kommt dann wohl auch wieder Samuel und der ganzen Familie zugute, denke ich.
So, morgen geht’s weiter. Im nächsten Blog-Eintrag lässt sich dann etwas über seine erste Musiktherapie-Stunde lesen. Eine Stunde, in der er wieder mal „alle Erwartungen übertrifft“..