Der Tag nach dem Konzert von Reinhard Mey war der Feiertag, der „Tag der deutschen Einheit“. Wir haben an diesem Tag das Zusammensein mit Katharina und Charlotte genossen, die am Nachmittag nach Hamburg ins Ronald-Mc-Donald-Haus kamen. (in der UKE-Zeit haben wir ca. alle drei Tage versucht, einen Nachmittag mit ihnen zu verbringen. Sie haben den Aufenthaltsraum vor der Intensiv-Station gesehen, den Weg von der Klinik zum „RoMCDo“ und eben das RoMcDo selbst, unser Appartment und die anderen räumlichen Möglichkeiten. Auch auf dem Spielplatz im Park vor dem UKE sind wir gewesen, das war dann vor allem für unsere dreijährige Charlotte richtig gut. Die Abschiedsszenen sind dann für uns mindestens so hart gewesen wie für Charlotte… „Ich will bei Papa mitfahren“, „Ich will zu Hause schlafen“… was soll man auf solche Sätze antworten… mir wurde selbst das Herz schwer, aber es ging ja nun mal nicht anders…
Samuel hat in diesen Tagen „seinen Job gemacht“ – er hat tief und fest geschlafen, es gab keine Komplikationen, stabile Werte, so dass wir langsam, aber sicher immer gewisser waren, dass er am Leben bleibt. Welches Leben das sein würde, konnte uns niemand prognostizieren – aber LEBEN ist immer besser als endgültiger Abschied.
Dennoch waren in diesen Tagen viele Fragen wieder sehr präsent: wie würde das werden, wenn er ein dauerhafter Pflegefall würde? Wie würden die Schwestern damit umgehen? Wie würden wir das packen mit vier Kindern, von denen eines so viel Aufmerksamkeit braucht wie sonst vielleicht drei?!?…
Aber es macht keinen Sinn, sich von diesen Fragen verrückt machen zu lassen. Wir lernen immer wieder, nur von Tag zu Tag zu denken und zu handeln.
Ich habe in diesen Tagen neu wirkliche Freundschaften zu schätzen gelernt. Freunde, die einfach mal so kommen oder für ein Telefonat zu haben sind. Die Sprachlosigkeit, Fassungslosigkeit, Traurigkeit… aushalten und gar nicht schnell bei der Hand sind mit klugen Worten, sondern einfach „nur?“ da sind.
Das war – und ist – großartig. Wenn ihr das hier lest, wisst ihr ja, dass ihr gemeint seid. Danke euch!
Die Beziehung zu unserem Sohn ist in diesen Tagen naturgemäß irgendwie anders. Sie ist nicht weg, natürlich nicht – aber sie ist doch ja recht einseitig… Aber ich habe die starke Hoffnung, dass diese Beziehung sich wieder in allen möglichen bunten Farben ausgestalten lässt. Dass wir wieder zusammen lachen können, ich seine Tränen trockne, dass wir einander kitzeln, jagen, manchmal auch streiten, uns aus Spaß boxen, miteinander unangenehme und angenehme Aufgaben erledigen, kleine und große Touren miteinander machen, Neuland entdecken… Selbst in diesen Tagen der Sedierung spüre ich Samuels unbedingten Lebenswillen…
Und ich spüre und erlebe weiterhin, wie viele Menschen sich im Gebet vor Gott stellen, um ihn anzuflehen, Samuel gesund werden zu lassen. Ich lese auch in diesen Tagen die Losungen. Wie immer, naja, zumindest seit über 30 Jahren…
Aber sie sprechen anders, direkter zu mir. In diesen Tagen z.B. aus Hebräer 11, dort heißt es: „Und was soll ich noch mehr sagen? Die Zeit würde mir zu kurz, wenn ich erzählen sollte von Gideon und Barak und Simson und Jeftah und David und Samuel und den Propheten. Diese haben durch den Glauben Königreiche bezwungen, Gerechtigkeit geübt, Verheißungen erlangt, Löwen den Rachen gestopft, des Feuers Kraft gelöscht, sind der Schärfe des Schwerts entronnen, aus der Schwachheit zu Kräften gekommen, sind stark geworden im Kampf und haben fremde Heere in die Flucht geschlagen.“
Ich wünsche meinem Sohn diese Erfahrung, die der biblische Samuel und viele andere Menschen gemacht haben: durch die Nähe zu Gott zu erleben, dass ein Weg aus der Schwachheit zu neuer Kraft führt, dass Kämpfe gewonnen werden…
Mein Sohn ist ein „Kämpfer“, das haben schon viele gesagt. Und ich will daran festhalten, dass er auch diesen Kampf mit Gottes Hilfe siegreich gestalten kann.
Natürlich: Gebet ist kein Automatismus. Alles ist Gnade, alles muss an SEINEM Ratschluss vorüber. Aber Gott liebt – immer. Und Gott KANN Wunder tun. ER ist mächtig – mächtig gegen Krankheit und Tod. Und ich wehre mich dagegen, alles Geschehene fatalistisch hinzunehmen, frei nach dem Motto: Was auch immer passiert – es wird gut sein. Nein, ich will, dass mein Sohn lebt, dass er diesen beschissenen Moment auf der Hoopter Straße nicht damit bezahlt, dass er um sein Leben gebracht wird. Weder indem er stirbt, noch indem er fortan ein Leben führt, dass von mehr Beeinträchtigungen geprägt ist als von Lebensfreude und Lebensqualität.
Nein, ich klage Gott diese Situation. Ich klage Gott nicht an, ich verklage ihn nicht. Aber ich klage ihm diese Situation und ich hoffe, flehe, bitte, dass er Samuel wieder ein Leben ermöglicht, das in etwa mit dem vergleichbar ist, das er vor seinem Unfall führen konnte…
Kyrie eleison. Herr, erbarme dich. So ist mein Gebet. Morgens, tagsüber, abends…
Kleine Freuden in diesen Tagen: wenn ich abends nach Hause komme, ist Essen da. Gekocht von der Nachbarin, die Samuel am Unfallort fand. Gutes Essen hält Leib und Seele zusammen, sagt man. So ist es hier auf jeden Fall!
Yvonne und ich halten in diesen Tagen einander fest, tun uns gut – mal ist der eine schwach, mal der andere, mal wir beide gleichzeitig – und das ist okay.
Umarmungen, gemeinsame Tränen, aufmunternde Worte, Schweigen, Beten… und immer wieder die Gewissheit, einander zu lieben und diese Zeiten in gemeinsamer Liebe durchstehen zu wollen, zu können?!?…!!!
Welch ein Geschenk!
